Exzerpt aus dem Artikel: J.Reutemann (2017): "Into the Forest – Über die gegenseitige epistemische Unterwanderung von Wissenschaft und Film" in "Kunst, Wissenschaft, Natur: Zur Aesthetik und Epistemology der künstlerisch-wissenschaftlichen Naturbeobachtung"
Die Produktion von Wissenschafts- und Bildungsfilmen verzeichnet in den letzten Jahren an den Universitäten und Hochschulen erneut einen enormen Zuwachs.[1] Im Zuge der Digitalisierung wird für eine weltweite Dissemination von Wissenschaftsthemen schriftliche Publikationen, digitaler Lehre (z.B. Massive Open Online Courses) oder aber auch Forschungsthemen (z.B. Video-Abstracts) zunehmend mit Bewegtbildern kommuniziert. Es handelt sich explizit um einen erneuten Zuwachs – da eine Verbindung von Wissenschaft und Film keineswegs ein neues Phänomen darstellt, sondern historisch betrachtet seit den Geburtsjahren der Bewegtbilder immer wieder Synergien und ein Co-Design im kreativen Austausch zwischen Wissenschaft und Film entstanden sind.[2]
Durch die Digitalisierung sowie rasante technische Entwicklung von Kameras wurde in den letzten Jahrzehnten Zugriff und Handhabung der Filmtechnik revolutionär erleichtert. Dank leichter Kameras,
neuer Speicherformate, einfacher Postproduktions-Prozesse - und nicht zuletzt – der Möglichkeit, die Bewegtbilder in einem internationalen Distributionsraum mit einem einzigen Klick im
Netz zu veröffentlichen, ist es heute einfacher und billiger als je zuvor, das Medium der Bewegtbilder zu nutzen. Diese technologische Entwicklung hat wesentlich dazu beigetragen, dass
Bewegtbilder heute ein wichtiger Bestandteil der alltäglichen Informationsquellen und auch der akademischen Wissenschaftskommunikation geworden sind.
Bei hochschulintern produzierten Bewegtbildern für die Wissenschaftskommunikation lassen sich heute in groben Zügen zwei Arten von Produktion-Teams identifizieren: Einerseits versuchen sich manche Forschende oder andere filmisch fachfremde Personen selbst, neben ihrer Haupttätigkeit, im Umgang mit Bewegtbildern zu üben – was durch die fehlenden medialen Kenntnisse zu tendenziell eher amateurhaften und unreflektierten Wissenschaftsfilmen führt.[3] Dieser (leider) heutzutage häufige Fall soll in diesem Beitrag nicht vertieft thematisiert werden.[4] Andererseits existieren innovative Felder der inter- und transdisziplinären Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Filmemachern, welche durch den präzisen Umgang mit wissenschaftlich-filmischen Strategien eine fundierte audiovisuelle Wissenschaftskommunikation des jeweiligen Forschungsthemas anstreben.[5] Diese Synergien der Zusammenarbeit, die entstehenden Transformation sowohl der Darstellung als auch der Inhalte der Wissenschaft, sowie die daraus resultierenden gegenseitigen Unterwanderungen der den Feldern zugrundeliegenden Epistemologien von Wissenschaften und Film, werden in diesem Beitrag untersucht.[6] Hierbei stehen audiovisuelle Bewegtbilder im Zentrum der Analyse, die nicht per se auf eine populärwissenschaftliche Kommunikation ausgerichtet sind, sondern welche innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen zirkulieren und das Spektrum der schriftlichen Kommunikation unter Wissenschaftlern und wissenschaftlich ausgebildeten Experten erweitern.
Als Erstes wird dazu ein Überblick über die historische Entwicklung einer wissenschaftlich-filmische Kollaborationen und Co-Design aufgezeigt (Kapitel 2.1), aktuelle Produktionsweisen vorgestellt, sowie anhand einer aktuellen audiovisuellen Wissenschaftskommunikation von Fallstudien in den Wäldern der Scottish Highlands über die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Prof. Dr. Jaboury Ghazoul, Professur für Ecosystem Management der ETH Zürich mit der Autorin exemplarisch in einen wissenschafts-filmischen Diskurs eingeführt (Kapitel 2.3).[7] Darüber hinaus wird die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und sogenannten boundary spannern, Experten mit einem Hintergrund in audiovisuellen Mediendesign und angewandter Forschung diskutiert (ab Kapitel 2.4).
Im zweiten Teil untersucht der Beitrag die Transformation des wissenschaftlichen Datenkomplexes durch die Produktionsprozesse von Bewegtbildern. Dabei stehen die medialen Eigenschaften von Bewegtbildern sowie deren epistemischen Gehalt im Fokus der Analyse. Deswegen wirft der Beitrag einen vertieften Blick auf eine Veränderung der Datengrundlage der Wissenschaft durch die Generierung von wissenschaftlichen Bewegtbildern (Kapitel 3.1, 3.2). Dieser Artikel baut desweitern auf der Sichtweise von Verdicchio (2010) auf, welcher Latour’s Begriff der immutable mobiles[8] (2002; 2011) auch auf die Verwendung von Bildern aus der Wissenschaft versteht, welche für eine audiovisuelle Wissenschaftskommunikation eingesetzt werden, und erweitert diesen auf die direkt generierten Bewegtbilder aus dem Forschungsfeld (Kapitel 3.3).[9] Die Definition der immutable mobiles wird dabei auf die im Co-Design produzierten Wissenschaftsfilme erweitert verstanden, und setzt damit für eine solche audiovisuelle Produktion als Teil von Wissenschaftsdaten, -Ergebnissen und –Erkenntnissen, einen genuinen, akribischen und authentischen Umgang mit Bild und Ton voraus.
Aus dieser Perspektive ist der Umgang mit Kamera, Ton und Postproduktion vergleichbar mit einem Instrument, wie die Bedienung eines Elektronenmikroskops, und bedarf ebensolcher Expertise um wissenschaftlich valide Daten damit zu erzeugen.[10] Diese Authentizität kann jedoch einerseits in einem Spannungsfeld mit den spezifischen affordances[11] des Mediums stehen, sowie andererseits mit ästhetischen und zeitlich-kulturellen Aspekten des audiovisuellen Mediendesigns (Kapitel 3.4; 3.5). Hier sind als erstes die klassischen Strategien der Bild-Inszenierung und das Regelwerk des Mediums zu erwähnen, beispielsweise unzähligen Re-Kombinationen von Bild und Ton, der Zeitdehnung, Perspektivenwahl, Rhythmus-Geschwindigkeit der Montage oder der Möglichkeit durch Makroaufnahmen oder Zeitraffer/-lupe und Aufnahmen außerhalb des Spektralbereich des menschlichen Auges Unsichtbares sichtbar zu machen. Dies sind alles Eigenschaften, welche den spezifischen Umgang mit Bewegtbildern medial auszeichnen. Hinzu kommen zeitlich-kulturellen Trends in der medial-ästhetischen Inszenierung, die einerseits durch die veränderte Technologie sowie durch neue subkulturelle oder kommerzielle Bewegungen geprägt werden (Kapitel 3.6; 3.7).[12]
[1] Der Begriff «Wissenschaftsfilm» steht im folgenden Artikel für alle Formate von Bewegtbildern, die in ihrer Produktion Wissenschaft darstellen. Heute, 2016, wäre der Begriff des «Wissenschaftsvideo» eigentlich die präzisere Definition. Da die Unterscheidung zwischen Film und Video jedoch nicht im Fokus dieses Artikels stehen, wird im Sinne der Konsistenz der Terminologie mit der bereits existierenden Literatur über Wissenschaftsfilme aus dem 20ten Jahrhundert darauf verzichtet, die Begrifflichkeit anzupassen.
[2] Wissenschaft wird hier in einer weiten Definition verwendet und referenziert auf Andrew Pickering’s Interpretation einer wissenschaftlichen Kultur verwendet, welche alle Elemente der wissenschaftlichen Praktiken wie «skills and social relations, machines and instruments, as well as scientifc facts and theories» beinhaltet. Vgl. Andrew Pickering: The mangle of practice: Time, agency & science, Chicago: University of Chicago, 1995, S.3. Co-Design oder auch Co-Produktion sind beides Begriffe aus der inter- und transdisziplinären Forschung und beschreiben den synergetischen Prozess in der Erarbeitung von Inhalten sowie die gemeinsame und übergreifende Wissensgenerierung.
[3] Die Aussage bezieht sich sowohl auf audiovisueller Wissenschaftskommunikation gegen aussen, sei dies populärwissenschaftlich oder für einen engeren, Peer-Expertisekreis als auch den Einsatz von Bewegtbildern als Forschungsinstrument (vgl. dazu Kapitel: Ursprünge des wissenschaftlichen Filmes)
[4] Eine audiovisuelle Umsetzung von wissenschaftlichen Daten welche gleichzeitig erkenntnisgewinnende Prozesse durch und mit den medialen Möglichkeiten generiert, setzt einen präzisen und bewussten Umgang mit Bild und Ton, sprich audiovisuellen Mediendesign voraus.
[5] Im folgenden Beitrag wird auf eine geschlechterspezifische Grammatik zu Gunsten der Lesbarkeit verzichtet.
[6] Die Verwendung des Begriffes Audiovisuelles Mediendesign: Da wir heute zunehmend von digitalisierten Produkten in der Wissenschaftskommunikation sprechen, die das Format eines traditionellen Wissenschaftsfilmes durch interaktive Elemente, sowie VR-immersive head-mounted display Produktionen usw. erweitert, wird hier der Begriff des Audiovisuellen Mediendesigns verwendet welches den Begriff des Filmes damit erweitern soll. Der Begriff wird vor allem dann eingesetzt, wenn es um die Ästhetik der Inszenierung oder zeitlich-kulturellen Trends des audiovisuellen ›Designs‹ geht.
[7] Der Begriff der Interdisziplinarität wird hier anhand folgender Definition verwendet: «Interdisciplinary research (IDR) is a mode of research by teams or individuals that integrates information, data, techniques, tools, perspectives, concepts, and/or theories from two or more disciplines or bodies of specialized knowledge to advance fundamental understanding or to solve problems whose solutions are beyond the scope of a single discipline or area of research practice.» Vgl. NAS/NAE/IOM, Facilitating Interdisciplinary Research, Washington: National Academy of Sciences, National Academy of Engineering, Institute of Medicine, The National Academies Press, 306, 2005, S. 188.
Hinweis: Die Unterscheidung zwischen Interdisziplinarität und Transdisziplinarität ist vielfach fliessend und die Definitionsvielfalt ist gross. Zu einer Unterscheidung und Übersicht, Vgl. dazu: Christian Pohl / Gertrude Hirsch Hadorn: Gestaltungsprinzipien für die transdisziplinäre Forschung - Ein Beitrag des td-net. München: oekom, 2006 oder auch: Christian Pohl: «What is progress in transdisciplinary research?» in: Futures 43, 2011, S. 618-626. Die Begründung dazu liegt darin, dass von einer Zusammenarbeit ausgegangen wird, in welchem auch der Experte des audiovisuellen Mediendesigns in der akademischen Forschung tätig ist, oder zumindest darin Erfahrungen gesammelt hat. Mehr dazu: siehe Kapitel weiter unten über boundary spanners.
[8] Bruno Latour: «Visualization and Cognition: Drawing things together», H. Kuklick (Hg.), in: Knowledge and Society Studies in the Sociology of Culture Past and Present, Jai Press, Vol. 6, 2011, S. 1-40, hier: S.7.; Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora, Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaftsverlag, 2002, S. 375f.
[9] Vgl. Dirk Verdicchio: Das Publikum des Lebens: zur Soziologie des populären Wissenschaftsfilms. Vol. 8. transcript Verlag, 2010, S. 60.
[10] Die Disziplinen der Visual Anthropology, Video Ethnography oder Ethnographic Film beschäftigen sich seit Langem mit der Verwendung von Bewegtbildern für Forschungszwecke sowie als methodischer Einsatz für Feldforschung und hat damit eine interessante Grundlage geschaffen. Dennoch wird in diesem Artikel nicht spezifisch auf die Literatur aus diesen Feldern eingegangen, da sich – so die Annahme - die medial-ästhetischen Ansätze, Narrationstechniken und wissenschaftliche Daten-Visualisierungen aus Sicht von Experten des audiovisuellen Mediendesigns unterscheiden (siehe dazu Kapitel: Generierung von Bildern für eine audiovisuelle Wissenschaftskommunikation). Übersicht über Visual Methodology in Ethnography: Vgl. Sarah Pink: Doing visual ethnography, Sage, 2013; Sarah Pink: «Walking with video», In: Visual Studies 22.3, 2007: S. 240-252; Sarah Pink: «More visualising, more methodologies: on video, reflexivity and qualitative research», In: The Sociological Review, 49.4, 2001: S. 586-599.
[11] James J. Gibson: «The Theory of Affordances», in: R. Shaw/ J.Bransford (Hg.), Perceiving, Acting, and Knowing: Toward an Ecological Psychology, Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1977, S. 67-82.
[12] Bsp. für zeitlich-kulturellen Trend mit Bewegtbildern: Schnittgeschwindigkeit, Montage Stil, Rahmung des Sprechers. Dann die technologische Entwicklung der Bildauflösung 4K und mehr: Bereits die Umstellung auf High Definition (FullHD) hat bei vielen Produzenten im Broadcast zu erheblichen Herausforderungen geführt, da die Inszenierung im Studio durch die höhere Bildauflösung einen präziseren Kulissenbau (Markierungen für Talking Heads wurden plötzlich sichtbar) voraussetzte. Bei 4K und co. ist bereits heute die Rede davon, dass durch die nochmals um ein Vielfaches erhöhte Auflösung eine Form der Hyperrealität kreiert wird, welche Bilder generiert, die dem natürlichen Auge noch nie zuvor in dieser Art und Weise präsentiert worden sind.
Poster Presentation at the "Swiss Inter- and Transdisciplinary Day 2016" at University Lucernce Switzerland