„Für manche seriöse Forscher mag dem Kinofilm noch allzu sehr der Charakter des Unterhaltenden und auch des Oberflächlichen anhaften. Andere wieder glauben, ihre an sich schon unter Zeitnot leidenden Vorlesungen nicht noch damit belasten zu können. Am besten setzt sich der Gegenbeweis wohl durch, wenn Filme mehr und mehr auch bei größeren wissenschaftlichen Tagungen als Begleiter von Vorträgen und Forschungsberichten herangezogen werden, um ihre Nützlichkeit, zuweilen sogar ihre Unentbehrlichkeit ad oculos zu demonstrieren“
Geigy verfasste diesen Text 1953 als Auftakt einer hoffnungsvollen neuen Ära von Wissenschaft und Film mit dem ambitionierten Ziel, eine Encyclopaedia Cinematographica zu erschaffen. Die Bedingungen für einen filmischen, enzyklopädischen Eintrag wurden anhand von spezifischen Parametern bestimmt, etwa indem ein „Vorgang so abzubilden [ist] [...], dass das Bewegungsbild einer überaus sorgfältigen wissenschaftlichen Beschreibung entspricht“ (WOLF, 1968, S. 17). Bewegtbilder wurden damit eine „Messmethode und im engeren Sinne ein spezielles Speichermedium mit den unmittelbaren Messergebnissen, die durch ein kinematographisches Verfahren gewonnen werden“ (KALKOFEN 1992, S. 3).
Die Umsetzungen sollten ein hohes Maß an Wirklichkeitsgehalt aufweisen und damit streng wissenschaftlich sein. Damit werden – so die Annahme – Bewegtbilder in einem geleiteten Regelwerk zu einer intersubjektiven Methode, vergleichbar mit einem Messinstrument im Labor. Die Herstellung der Encyclopaedia Cinematographica wurde von Anfang an als eine interdisziplinäre Aufgabe mit dem „Institut für den Wissenschaftlichen Film“ angegangen, scheiterte jedoch nach 42 Jahren Produktion. Das „Institut für den Wissenschaftlichen Film“ in Göttingen wurde nach Jahren der finanziellen Unsicherheit 2010 geschlossen – also kurz bevor der Einsatz von Science Videos im Rahmen der digitalen Transformation an Hochschulen durch die MOOCs einen Aufschwung bekamen.[1] Denn in diesen sogenannten, disruptiven Massive Open Online Courses welche von Universitäten der ganzen Welt angeboten wurden, übernehmen Science Videos oft die zentrale Rolle in der wissenschaftlichen Inhaltsvermittlung (REUTEMANN, 2016a). Die NY Times Zeitschrift betitelte beispielsweise das Jahr 2012 als „The year of the MOOC“ (PAPPANO, 2012). Der globalisierte Hype rund um den Zugriff auf Science Videos von Universitäten der ganzen Welt hielt jedoch nicht lange an und die versprochene Demokratisierung von Wissen mit open online Zugriff wurde größtenteils durch paywall-Zugriff mit per Kreditkarte zu bezahlenden Kursgeldern ersetzt.
Science Videos sind also nichts Neues.[2] Freilich hat sich die Entwicklung rund um Bewegtbilder rasant entwickelt und heute sind andere technologische und ästhetische Möglichkeiten vorhanden; Kritische Diskurse über wissenschaftliche Darstellungen von komplexen Phänomenen in Videos, epistemologische Qualitäten und Grenzen des Mediums für die Forschung oder Fragen nach einer audiovisuellen Rhetorik für die Wissenschaft und Lehre existieren aber bereits seit mehr als einem Jahrhundert.[3] Einige dieser medienspezifischen Potenziale von Videos für die Wissenschaft und Lehre, werden in den kommenden Zeilen beispielartig aufgeführt und diskutiert.
[1] Es existiert heute ein weite Bandbreite von sogenannten „Science Video“ und die Analyse dieser unterschiedlichen Formate würde nach einer eigenen Publikation verlangen (vgl. HANSCH et al., 2015; REUTEMANN, 2016b; BOY et al., 2020). Im folgenden Artikel wird der Begriff von „Science Videos“ im Sinne des Überbegriffs „Wissenschaftsfilm“ des Filmlexikons der Universität Kiel betrachtet, in welcher alle Bewegtbilder inkludiert sind, die im Kontext der Forschung und Lehre stehen. Dabei ist das Ziel der Wissenschaftsfilme, der „Forschung, Dokumentation, Unterstützung der Lehre und Popularisierung des Wissens“ zu dienen (FILMLEXIKON, 2012). Einfachhalber wird ebenfalls auf eine Unterscheidung der Distributionswege verzichtet. Der Grund für die reduktionistische Sichtweise von Science Videos beruht darauf, dass die medialen Eigenschaften, die audiovisuelle Sprache und Rhetorik im Vordergrund stehen.
[2] Die Behauptung, dass Science Videos neu und innovativ sind, kursieren heute immer noch ab und zu in unterschiedlichen Kontexten von Hochschulen. Beispielsweise hat der Harvard University Chemiker George Whitesides in 2011 in einem Video über den Impact of video on scientific articles gemeint: “You had to be able to describe your science in words, or tables, or in plots, in two-dimensions on a piece of paper, […] With videos, you can now describe dynamic phenomena which are simply too complicated, too complex, too unusual, too full of information to do in words and two-dimensional pictures” (WHITESIDES, 2011).
[3] So wurde u.a. in den 1910er-Jahren der Wissenschaftsfilm als eigenes Genre deklariert (LEFEBVRE, 1993).